Der Name Ridley Scott macht auch im Jahr 2020 Filmfans noch hellhörig, obwohl sie damit zuletzt nicht nur Qualität in Verbindung brachten. Die ersten zwei Folgen der von Aaron Guzikowski (Prisoners) geschriebenen Serie wurden tatsächlich sogar von the man himself dirigiert, der später dann nur noch als Executive Producer in den Credits auftaucht. Raised By Wolves trägt trotzdem von Anfang bis Ende dessen Handschrift und fordert den Zuschauer mit ungelösten Geheimnissen, ethischen Grundsatzfragen und mystischer Symbolik. Wie schon bei Scott’s Problemfilmen Prometheus und Alien: Covenant ist das auf dem Papier und während der Einstiegsphase der Serie sehr vielversprechend. Jedoch übernimmt sich auch Raised By Wolves mit seinen tiefgründigen Ideen, Konzepten und Symbolen, was vor allem am inkonsistenten Drehbuch liegt.

Fassen wir zunächst mal die Hintergrundgeschichte zusammen, die übrigens nicht linear, sondern in Rückblenden und Traumsequenzen erzählt wird. In einer alternativen nahen Zukunft ist die Erde durch den Krieg zwischen fanatischen Mithraikern (eine Religion, die einen Sonnengott „Sol“ anbeten) und Atheisten unbewohnbar geworden. Die vorherrschenden Mithraiker schicken ihre „Upper Class“ via Arche zum Planeten Kepler 22b; doch auch die Atheisten, die ein unterlegenes Partisanendasein fristen, programmieren zwei Androiden des Feindes um und schicken diese mit ein paar Embryos und einem kleinen Schiff ebenfalls in Richtung Ersatzplanet. Dort ziehen die beiden Androiden, die die meiste Zeit nur „Mother“ und „Father“ genannt werden, ihre kleine Kolonie heran, was allerdings nicht ganz problemfrei läuft. Nicht nur sterben die Kinder nacheinander an unbekannten Ursachen; auch die Arche der Mithraiker hat es bis Kepler 22b geschafft und deren Erkundungstruppen sind wenig begeistert von der kleinen Atheistenkolonie.

Wie man schon merkt, ist der Plot eigentlich recht interessant und bietet reichlich Potenzial. Und obwohl der Titel dieses Reviews deutlich negative Vibes ausstrahlt, muss man hier ganz klar sagen, dass dieses Potenzial gut ausgeschöpft wird. Die Charaktere und deren Hintergrundgeschichten sind gut ausgedacht und verzichten auf Klischees. Auch das Setting ist toll: Die Kulisse von Kepler 22b ist zu Beginn der Serie eine karge Landschaft mit mysteriöser Flora, seltsamen geologischen Eigenheiten und bizarren Relikten aus der planetaren Vergangenheit. Raised By Wolves hätte also definitiv das Material zu einer grandiosen Sci-Fi-Serie. Der Teufel steckt jedoch wie immer in den Details.

Wie schon erwähnt, sterben alle bis auf eines der von den Androiden großgezogenen Kinder an Strahlenkrankheit. Wie sich später herausstellt, sind die Knollen, von denen sich die Kinder ernährt haben, radioaktiv. Hoch entwickelte Androiden können scheinbar weder Strahlung detektieren noch deren Folgen erkennen. Egal, immerhin überlebt eines von ursprünglich sechs Kindern. Campion ist der letztgeborene, der bei der „Geburt“ fast gestorben wäre. Dadurch ist er von Anfang an Mothers Liebling, der bei ihr ungewöhnliche Mutterinstinkte und -gefühle auslöst. Das wirkt zu Beginn etwas seltsam, da das künstliche Elternpaar so etwas wie Emotionen eigentlich nicht haben dürfte.

Als Rechtfertigung für die auffällig gefühlsgesteuerten Entscheidungen von Mother und Father wird später in der Serie erwähnt, dass Emotionen in der Programmierung vorgesehen seien, um die Eignung als Eltern zu optimieren. Als Zuschauer hat man aber leider oft den Eindruck, dass die Androiden gerade dann menschliche Gefühle entwickeln, wenn die Handlung es gerade braucht. Die erste „Überraschung“ der Serie, dass Mother eine hoch entwickelte Killermaschine ist, die bloß notdürftig zur Mutter umprogrammiert wurde, ist zwar eine treibende Kraft des Haupthandlungsstranges, macht die Ungereimtheiten im Skript jedoch umso offensichtlicher.

Sie kann zwar fliegen, sich kugelsicher machen und Menschen mit einem gezielten Schrei zerplatzen lassen; dass sie ihre Schützlinge mit radioaktiven Pflanzen füttert, merkt sie aber nicht. In der letzten Folge kann Father übrigens die Herkunft eines Knochenfragments aufgrund dessen molekularer Zusammensetzung bestimmen… indem er es in den Mund nimmt. Ooooops, hätte er das doch bloß Früher gekonnt… Dass der Planet auch noch von anderen Lebensformen bewohnt wird, die gegen Staffelende ständig auftauchen, scheint den beiden auch ein ganzes Jahrzehnt lang entgangen zu sein.

Das sind jetzt nur ein paar Beispiele für seltsame Lücken im Skript, die mir als Hard-Sci-Fi Fan sauer aufstoßen. Die Liste mit weiteren Fragen, die ich an die Autoren hätte, ist schier endlos:

Spoiler Alarm!

Warum haben die ganzen verstreuten Wrackteile der Arche noch wochen-/monatelang Strom und funktionieren noch, als wäre nichts gewesen?
Brauchen Kinder keine Vitamine zum Großwerden? Radioaktive Knollen sind doch sicher nicht sehr nahrhaft?
Wie ernährt sich der Sträfling mit dem Todeshelm? Und warum kann er kritische Funktionen selbst kontrollieren?
Warum braucht Mothers „Fötus“ später Blut von Säugetieren, wenn sie mit ihrem Androidenblut sechs Menschenföten vollständig ernähren konnte?
Was hat es mit den Stimmen auf sich?
Was ist das für ein seltsames Felsding in der Wüste?

Spoiler Alarm Ende!

Raised By Wolves reißt jede Menge interessanter Konzepte an, wirft und dem Zuschauer ständig neue Mysterien um die Ohren. Leider bleiben viele Ideen im Verlauf der ersten Staffel auf der Strecke und sehr viele Fragen bleiben unbeantwortet. Versteht mich nicht falsch; ich weiß es zu schätzen, wenn ein Film/eine Serie die Vorstellung des Zuschauers stimuliert und ihn zu eigenen Mutmaßungen und Theorien inspiriert. Raised By Wolves ruht sich aber zu sehr darauf aus. In der zweiten Hälfte der Staffel passiert eigentlich nichts Spannendes mehr, außer dass nach und nach scheinbar alle vor und hinter der Kamera ihren Verstand verlieren. Was mich als Zuschauer zum Weiterschauen nach der fünften Folge bewegt hat, war die Neugier nach der großen Enthüllung oder Wendung in der Story. Leider passiert nichts dergleichen. Stattdessen werden mehr und mehr Fragen angehäuft, während die Handlung und das Setting immer abgefahrener werden. Nach der zehnten Folge bleibt man also ernüchtert auf seinen Fragen sitzen und kann fröhlich in diversen Fanforen mit Spekulieren anfangen, wenn man Spaß daran hat. Ich sehe in der ganzen Sache allerdings ein großes Problem: Die Macher der Serie bürden der zweiten Staffel schon vor Drehbeginn einiges auf.

Da wir nun das Kapitel „die schlechte Nachricht zuerst“ nun hinter uns haben: Raised By Wolves macht auch einiges richtig und wer nicht so in Details vernarrt ist wie ich, kann dieser Serie sicherlich einiges abgewinnen. Ein Adjektiv, dass dieses Machwerk ganz gut beschreibt ist „bildgewaltig“. Ridley Scotts Name wird nicht umsonst als Werbeslogan benutzt. Raised By Wolves brilliert durch solide Kameraarbeit, fremdartig-bizarre Landschaften, erfrischendes Technologiedesign und eine, wie schon angedeutet, solide Story. Die Kreativabteilung hat sich überdies viel Mühe gegeben, etliche religiöse, mystische und esoterische Anspielungen und Querverweise einzubauen. Hier hatte man offensichtlich die philosophier- und diskussionsfreudige zukünftige Fanbasis im Sinn, was aus Marketingperspektive ein kluger Schachzug ist.

Auch die Schauspieler überzeugen durchaus; die Auswahl erfolgte zwar nach dem Prinzip „wir brauchen eine exakt homogene Verteilung von Hautfarben und Nationalitäten, damit uns Twitter-Aktivisten nicht canceln“, aber das hat zum Glück wenig Auswirkungen auf die Qualität des Casts. Besonders Amanda Colin und Abubakar Salim brillieren als ungleiches Androidenpaar, aber auch die Kids wirken authentisch und überzeugend. Travis Fimmel (bekannt aus Vikings) ist wahrscheinlich das bekannteste Gesicht in der Riege und passt ebenfalls gut in seine Rolle des langsam in den Wahnsinn abdriftenden falschen Mithraikers. Sein Repertoire von ca. drei Gesichtsausdrücken war in Vikings stets Anlass zur Kritik, aber hier passt es ganz gut zur Rolle.

Die Serie steht in meinen Augen an einem Scheideweg: Entweder führt sie die ganzen eingeführten Konzepte in einem großen Handlungsbogen zusammen, der die essenziellen Fragen beantwortet und der verworrenen Handlung letztlich Sinn verleiht. Das wäre ein ziemlich großer Wurf, der die Versäumnisse der ersten Staffel gut ausbügeln würde. Trotz all meinem Gemecker hat das Grundgerüst von Raised By Wolves immer noch riesiges Potenzial. Die Geschichte hat uns aber gelehrt, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit der zweite Fall eintreten wird: Die Macher der Serie holen sich weiterhin einen darauf runter, wie viele abgedrehte Sci-Fi-Ideen man in eine Serie reinstopfen kann und lassen das ganze Gebilde unter der eigenen Last kollabieren. Es wäre nicht die erste von Ridley Scotts Schöpfungen, der es so ergeht.

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