Wie die meisten von euch gehöre ich einer Generation an, die zumindest teilweise mit japanischem Anime großgeworden ist. Nicht mit Pokemon oder Dragonball, dafür bin ich tatsächlich 2-3 Jahre zu alt. Sondern mit den Animes, die Vox und MTV ab und zu mal nach Mitternacht ausgestrahlt haben und für die ich öfter mal den Videorecorder programmieren musste. Mit dem guten Scheiß also. So hat die Kunstform des japanischen Animationsfilmes es in meine feste Rotation geschafft und ich konsumiere davon mindestens genauso viel wie reguläre Filme und Serien.

Im Großen und Ganzen bin ich damit aber eher eine Ausnahme und ein Nerd. Anime hat es trotz seiner langen Geschichte und der stark wachsenden Popularität in letzter Zeit immer noch nicht so richtig in den Mainstream geschafft. Das liegt teilweise am westlichen Vorurteil, Animationsfilme seien hauptsächlich etwas für Kinder oder Heranwachsende. Teilweise liegt es aber auch an problematischen Tropes wie die Sexualisierung kindlich aussehender Charaktere. Das ist zwar bei weitem kein Standard im Anime, aber kommt trotzdem oft genug vor, was den Ruf des Genres und seiner Fans natürlich negativ beeinflusst. Ein weiterer abschreckender Faktor ist die teils eigenwillige Erzählweise, die für westliche Gewohnheiten oft ein wenig abgedreht oder störend übertrieben wirkt. Endlose Expositions-Monologe, albernster Slapstick und bizarre Körperproportionen sind nicht jedermanns Sache, machen aber besonders viele Anime-Produktionen aus, die im Ausland stark vermarktet wurden. Es gibt aber auch Anime, der für westliche Normalos durchaus interessant, aber leider nie im Mainstream angekommen ist. Ein paar Beispiele dafür möchte ich euch heute hier vorstellen. Ich habe dafür einen kleinen Mix aus verschiedenen Genres zusammengestellt, von brutaler Sci-Fi Dystopie bis hin zu lustiger Familienunterhaltung. So dürfte für jeden was dabei sein. Ein ist vorab klar: Jedes der folgenden Beispiele lässt in Sachen Story, Charaktere und Setting so ziemlich alles alt aussehen, was über die durchschnittsdeutsche Mattscheibe flimmert.
Ghost in the Shell

Die Adaption des gleichnamigen Kult-Mangas ist einer der bekanntesten Animes überhaupt und wird von vielen als Meilenstein des Cyberpunk Genres betrachtet. Mamoru Oshiis Anime dreht sich um Agentin/Soldatin Major Mokoto Kusanagi, deren Wesen (Ghost) nach ihrem Tod in einen künstlichen Körper (Shell) transferiert wurde, was in diesem Setting gesellschaftlich Gang und Gäbe ist. Im Auftrag der Regierung jagt sie nach dem Puppet Master, einem Hacker, der anfängt, Ghosts für seine Zwecke zu manipulieren und damit das System ziemlich auf den Kopf stellt. Für mich hat Ghost In The Shell denselben Stellenwert wie Blade Runner. Beide Produktionen haben das Genre mit einigen sehr interessanten Fragen sowie optischer und stilistischer Perfektion bereichert sowie mehrere Generationen von Filmemachern nachhaltig inspiriert. Die Animationen, die Hintergründe und technische Designs sind auch nach heutigen Maßstäben noch brillant und beeindruckend. Der Soundtrack, der aus minimalistischen Folklore-inspirierten Stücken besteht, die ausschließlich auf traditionellen Instrumenten gespielt werden, kontrastiert die dargestellte technologiefixierte Welt und passt gerade deshalb so gut dort hinein. Und wie für das Genre üblich, wird der Zuschauer gefragt: Wie beeinflusst technischer Fortschritt die Menschheit? Was macht einen Menschen aus? Wie unterscheiden sich natürliche und künstliche Intelligenz? Können beide nebeneinander existieren? Und wie für Filme aus dem letzten Jahrtausend üblich, werden die Antworten darauf dem Zuschauer nicht vorgekaut präsentiert, sondern er darf selbst darüber nachdenken. Heutzutage undenkbar und deshalb Pflichtprogramm.
Cowboy Bebop

Man kann keine Best-Of-Liste ohne die wahrscheinlich bekannteste und beliebteste Anime-Produktion aller Zeiten zu machen, zumindest unter denen, die sich nicht an Kinder richten. Cowboy Bebop ist mit dafür verwantwortlich, dass Anime seit der Jahrtausendwende auch außerhalb Japans steil an Popularität und Einfluss gewonnen hat. Die 26 Episoden umfassende Weltraumoper um eine bunt zusammengewürfelte Kopfgeldjägertruppe vereint Elemente aus Western, Martial Arts und Film Noir in einem klassischen Sci-Fi Setting und konnte auf Anhieb ein weltweites Publikum für sich begeistern. Nicht nur ist Cowboy Bebop auch heute noch eine Messlatte für Animationsqualität und Setpiece Design; die quirligen Charaktere, der feine Humor, interessante Schauplätze und die Spannende Handlung machen diese Serie auch heute noch zu einer unvergesslichen Einstiegsdroge. Dazu kommt das eigentliche Aushängeschild der Serie, ein großartiger und zeitloser Soundtrack, der klassische Genres wie Jazz, Blues und Rock ’n‘ Roll umfasst. Cowboy Bebop ist Kult!
Spy x Family

Diese Liste wäre nicht vollständig ohne etwas familienfreundliche Unterhaltung und wie der Zufall so will, eine meiner Lieblingsserien in letzter Zeit. Die Spionage-Comedy dreht sich um eine Scheinfamilie aus gedankenlesendem Mädchen, Meisterspion und Auftragskillerin. Natürlich kennt hier aber niemand die Geheime Identität des/der anderen, was den eigentlichen Spannungsbogen der Serie ausmacht. Spy x Family ist eine der wenigen Serien, die mich regelmäßig und zuverlässig zum Lachen bringen. Die Serie ist witzig, unterhaltsam, leicht verdaulich und trotzdem nicht dümmlich oder flach. Was mich beeindruckt ist, wie mühelos und klischeefrei die verschiedenen Perspektiven der Charaktere erzählt werden und damit immer wieder eine raffinierte Situationskomik erzeugt wird. Spy x Family ist leicht zu unterschätzen, also lasst euch das nicht versehentlich entgehen! Lässt sich übrigens super zwischendurch gucken und auch bedenkenlos mit euren Kids, sofern die mindesten so um die 10-12 Jahre alt sind.
Frieren

Keine andere Serie hat mich jemals so oft und hart zum Heulen gebracht wie diese hier. Ja richtig gelesen, ich heul manchmal bei Filmen/Serien. Frieren erzählt im klassischen Fantasy-Setting die Geschichte der gleichnamigen Elfen-Magierin, die zusammen mit ihrer Abenteurergruppe den Dämonenkönig besiegt und sich mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt hat. Aufgrund ihrer extrem langen Lebensspanne wird ihr nach und nach durch den Verlust ihrer einstigen Gefährten bewusst, dass Sie nicht viel von Zeitwahrnehmung und menschlichen Emotionen versteht. Zusammen mit den jungen Lehrlingen der Abenteurer macht sie sich also erneut auf die Reise, um mehr über die Natur der Menschen zu erfahren und sich dabei einer neuen Bedrohung entgegenzustellen.
Frieren erzählt eine emotionale und feinfühlige Geschichte über Freundschaft, Sterblichkeit, Erinnerungen und wie wichtig die Zeit ist, die man mit geliebten Personen verbringt. Wer mit klassischen Fantasy-Tropes nicht zurechtkommt, wird von Frieren sicherlich zunächst abgeschreckt werden; aber es lohnt sich, über diesen Schatten zu springen. Zeichenstil, Animationen und Soundtrack sind absolut meisterhaft und gehören zum Besten, was Anime jemals hervorgebracht hat. Frieren wird immer einen festen Platz in meinem Herzen haben und ich hoffe, damit viele von euch anstecken zu können.
Vivy – Flourite Eyes Song

Im KI-Themenpark NiaLand arbeitet Diva (Vivy), der erste vollständig autonome Androide, als Sängerin. Autonome KI bekommt zur Optimierung stets eine Hauptaufgabe zugeteilt, der sie ihr Dasein widmen soll. In Divas Fall ist das, Die Menschheit mit ihrem Gesang glücklich zu machen. Eines Tages ergreift ein Programm namens Matsumoto von ihrem Roboter-Teddy besitz, das behauptet, aus der Zukunft zu sein, wo die Menschheit in einem Krieg gegen künstliche Intelligenz vor der Auslöschung steht. Divas perfekt menschlicher Körper und ihre großzügig interpretierbare Direktive sollen ihm dabei helfen, über einen Zeitraum von 100 Jahren den Verlauf der Geschichte zu verändern und den Krieg zwischen Menschen und KI somit zu verhindern.
Wie ihr schon lesen könnt, bedient sich Vivy… hier fleißig bei Vorbildern wie Westworld und Terminator. Das passt auf dem ersten Blick gar nicht zum eher kitschigen Cover Art und ich hatte dahinter auch eher softes Drama erwartet. Die rasante Sci-Fi Action mit bissigem Humor und sehr anspruchsvollem Storytelling hat mich dementsprechend komplett umgehauen. Vivy- Flourite Eye’s Song beweist eindrucksvoll, dass original Animes (also ohne Manga- oder Spielvorlage) noch eine Zukunft haben. Hier stimmt einfach alles: Die hervorragende Animation und Illustration von Wit Studio (Attack on Titan, Re:Zero), der unglaublich tolle Soundtrack und das durchdachte Screenplay, das komplett ohne Filler auskommt. Was mich auch sehr begeistert: Hier werden oft sogar die Opening- und End-Credits zum Erzählen der Geschichte genutzt, überspringt diese also auf keinen Fall! Der YouTuber penguinz0 hat es am treffendsten ausgedrückt: Vivy – Flourite Eye’s Song schafft in 13 Folgen, was viele andere Animes in 13 Jahren nicht schaffen. Ich kann da nur zustimmen.
The Apothecary Diaries

Und zum Schluss nochmal (relativ) familienfreundliche Unterhaltung. The Apothecary Diaries spielt im Mittelalterlichen China zur Tang-Dynastie. Das Waisenmädchen Maomao, das im Freudenviertel unter der Obhut des dortigen Apothekers aufgewachsen ist, wird eines Tages von Sklavenhändlern entführt und an den Kaiserlichen Palast als Dienstmädchen verkauft. Dort zieht sie durch ihr medizinisches Wissen schnell die Aufmerksamkeit des hoch gestellten Eunuchen Jinshi auf sich, welcher sie zur Zofe einer der Kaiserlichen Gemahlinnen macht. Im Stile des altbekannten „Mystery of the Week“-Konzepts löst Maomao fortan diverse Fälle von Vergiftungen, mysteriösen Erkrankungen und andere Verstrickungen. Einfach hat sie es dabei nicht: Die typischen Intrigen am kaiserlichen Hof, Jinshis seltsame Annäherungsversuche und ihre Schulden bei der Inhaberin des örtlichen Freudenhauses bringen Maomao immer wieder in unmögliche Situationen und machen die Serie dadurch stets spannend und unterhaltsam. Und obwohl hier und da einige sehr düstere Themen wie Sklavenhandel, sexuelle Gewalt und Mord aufkommen, verliert The Apothecary Diaries nie seine Leichtigkeit und Humor. Letzterer verdient separate Erwähnung, denn mich laut zum Lachen zu bringen ist für Filme und Serien an sich nicht einfach. Wie schon bei Spy x Family liege ich aber auch bei The Apothecary Diaries regelmäßig auf dem Boden, das ist definitiv ein Achievement. Besonderes Lob geht hier aber auch ans Animationsstudio. TOHO haben das mittelalterliche China einfach so wunderschön und farbenprächtig umgesetzt, dass allein das Zuschauen schon eine Freude ist. Selbst wenn man gar nichts mit Anime am Hut hat, ist The Apothecary Diaries eine sichere Empfehlung von mir.
Schlusswort
Wer sich dem Phänomen Anime bisher energisch widersetzt hat, wird sich von diesem Artikel wahrscheinlich auch nicht weiter beeindrucken lassen. Wer hingegen seinen Horizont etwas erweitern möchte, etwas neugierig geworden ist oder einfach nur was neues für die Watchlist sucht, findet hier hoffentlich ein paar gute Empfehlungen. Wie der Titel schon verrät, wird es auch einen zweiten Artikel mit vielen guten Empfehlungen für euch geben, aber das hier soll für den Anfang genügen. Viel Spaß beim Entdecken!
Einen netten Artikel über die Geschichte des Anime im deutschen Fernsehen und welche Rolle unter anderem Vox und MTV dabei spielten, findet ihr auch hier